110 Jahre Kleinbahn Weidenau-Deuz

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Seit 110 Jahren gibt es den Bahnanschluss des Johannlandes an die „große, weite Welt“: die Kleinbahn Weidenau-Deuz

Vor 100 Jahren wurde die Strecke dann bis Irmgarteichen und Werthenbach erweitert.

ÖPNV, der Öffentliche Personen-Nahverkehr, war schon immer ein Thema für die Menschen der Region: Mobilität ist eben eine der Lebensgrundlagen. Nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht (und da fühlt man sich an die heftig geführten Diskussionen über Notwendigkeit oder Unsinn der Route 57 erinnert), sondern auch in sozialer und soziologischer. An zwei besondere Daten in der Geschichte einer besonders wichtigen ÖPNV-Verbindung der Region erinnert Wilfried Lerchstein aus Netphen:

Vor 110 Jahren erhielt das bis dahin ländlich geprägte Netpherland durch die Kleinbahn Weidenau-Deuz endlich ein zeitgemäßes Verkehrsmittel und den für die erst dadurch einsetzende Industrialisierung lange vermissten Anschluss an die „große, weite Welt“. Nachdem am 29. November 1906 die landespolizeiliche Abnahme der Kleinbahn Weidenau-Deuz erfolgt war, wurde zwei Tage später, am 1. Dezember 1906, die Strecke in Anwesenheit zahlreicher Honoratioren feierlich eröffnet. Über beide Ereignisse erschienen in der Siegener Zeitung ausführliche Berichte, aus denen nachstehend zitiert wird.

„Weidenau, 29. Nov. Nach 14monatiger Arbeitszeit erfolgte heute die landespolizeiliche Abnahme der Kleinbahn Weidenau-Deuz, sodaß die Inbetriebnahme der 11,64 km langen Strecke am 1. Dezember erfolgen kann. Das Anlagekapital ist vom Staat, der Provinz und dem Kreis zu gleichen Teilen garantiert worden. Im Auftrage der Kleinbahnabteilung der Westfälischen Provinzialverwaltung, der die Ausführung des Bahnbaues und dessen Betrieb übertragen ist, führte die Firma Lünenbürger & Franzen (Witten) die Herstellung des Unter- und Oberbaues aus. Die Gebäude in Deuz errichteten die Firma Werner und Daub in Buschhütten und der Bauunternehmer Schneider (Deuz). Erstgenannte Firma, der auch die Aufstellung des Stationsgebäudes in Netphen übertragen war, erbaute die Stationsgebäude, letztere den Lokomotivschuppen.

In Weidenau stellte der Zimmermeister Aug. Schleifenbaum einen solchen Schuppen her. Die vier Brücken über die Sieg baute die Firma Siegen-Lothringer Werke. Die Oberaufsicht über den Bahnbau lag in den Händen des Herrn Geheimen Regierungs- und Baurats Buddenberg, der auch fernerhin die Geschäftsführung beibehalten wird, während die örtliche Bauleitung von dem Herrn Regierungsbaumeister Lobemann ausgeübt wurde. An der Lieferung der Lokomotiven und Wagen beteiligten sich die Firma Hentschel u. Sohn in Kassel sowie die Waggonfabrik Uerdingen.

Besondere Bauschwierigkeiten im Gelände waren nicht zu überwinden, dagegen fand durch das im Winter 1905/06 eingetretene Hochwasser, das die oberhalb Weidenau vorgenommenen Siegregulierungsarbeiten teilweise vernichtete, eine unliebsame Störung der Unterbauarbeiten statt. Der ursprüngliche Materialmangel zur Herstellung dieser Arbeiten konnte durch Benutzung einer Schlackenhalde der Rolandshütte gehoben werden. Durch diese Umstände verzögerte sich der beabsichtigte Zeitpunkt des Betriebsanfangs um einige Monate.

Die Leitung des Betriebes erfolgt durch den in Deuz wohnhaften Bahnverwalter Schiffer, der auch der dortigen Station vorsteht. Der Verkauf der Fahrkarten und der Güterabfertigungsdienst geschieht in Netphen durch Herrn Autschbach sen., in Dreisbach werden die Fahrkarten vom Gastwirt Scheib abgegeben, während man diese in Weidenau in der Volksküche erhält. Ueber den Verlauf der mit der Abnahme verbundenen Feier berichten wir morgen ausführlich.“

„Die Eröffnung der Kleinbahn Weidenau-Deuz Siegen, 30. November. Der gestrige Tag war für das Netpherland von weittragender Bedeutung. An ihm erfolgte die landespolizeiliche Abnahme der Kleinbahn Weidenau-Deuz, die berufen ist, auch das Netpherland und seine Seitentäler an den Weltverkehr anzuschließen. Ist dieser Anschluß zunächst auch nicht schrankenlos und nur für den Güterverkehr tatsächlich erfolgt, so ist doch allein durch die Möglichkeit, nach Benutzung der Kleinbahn in Weidenau auf kurzem Wege den Staatsbahnhof oder die nächste Haltestelle der elektrischen Kreisbahn erreichen zu können, für die Bewohner des Netpherlandes ein Verkehrsmittel geschaffen, dessen großer Nutzen sich mit Sicherheit bald zeigen wird. (…) Ein festlich bekränzter Sonderzug der Kleinbahn brachte die letzteren von Weidenau aus zum Festort. An allen Stationen hatten sich zahlreiche Schaulustige eingefunden, die den Zug und seine Insassen freundlich begrüßten. Besonders festlich aber war der Empfang in Deuz. Dort hatten auf dem Bahnsteig der Kriegerverein mit Fahne und ein Männer- und Jünglingsverein Aufstellung genommen, die den einlaufenden Zug und seine Fahrgäste – der Kriegerverein unter präsentiertem Gewehr – empfingen. In geschlossener Ordnung, die Siegener städtische Kapelle voran, ging es dann zum Festlokal durch den reich mit Tannen und Ehrenpforten geschmückten Ort, an dessen Eingang zu beiden Seiten des Weges die Schulkinder mit Fähnchen in den Händen Aufstellung genommen hatten. Als der Zug in den Ort einschwenkte, donnerten laut die Freudenschüsse ins Tal; (…). Vor Beginn des Mahles begrüßte Herr Amtmann Altrogge die Festversammlung, (…) im Namen des Amtes Netphen. (…) Überall entständen Fabriken, suche man in den Bergen nach Erz, und wenn nun der Schienenstrang das Tal durchziehe, hätten da dessen Bewohner nicht alle Ursache, sich zu freuen? (…) Während des Mahles nahm zunächst Herr Landrat Dr. Bourwieg das Wort. Ein halbes Jahrhundert sei es nun her, so führte der Redner aus, seit der Traum des Netpherlandes darauf gerichtet sei, eine Bahnverbindung zu erhalten. Es habe nahe gelegen, zunächst die Staatsbahn zu veranlassen, diese Verbindung herzustellen. Aber nachdem die Eisenbahnverwaltung im Jahre 1899 mit Bestimmtheit erklärt habe, die Bahn nicht zu bauen, da sei es bald klar gewesen, daß nur auf dem Wege der Selbsthülfe das Ziel zu erreichen gewesen sei. Im Februar 1901 habe sich der Kreis bereit erklärt, nachdem das Amt sich dazu verstanden hatte, den Grund und Boden für den Bahnbau kostenlos herzugeben, ein Drittel der Baukosten zu tragen, wenn Provinz und Staat die anderen zwei Drittel übernehmen würden.

Es sei zu einer Einigung auf dieser Grundlage gekommen, aber als nun eine behördliche Bereisung der Strecke erfolgte, da sei das Thermometer der Bahnhoffnungen wieder tief gefallen. Es hätten eben die volkreichen Nebentäler gefehlt, die man erwartet hatte. Da sei es denn Geheimrat Buddenberg gewesen, der warmherzig für den Bahnbau eintrat und eine Rentabilität von 2,5 % herausrechnete. Es erfolgte dann die Zustimmung zum Bahnbau seitens der Provinz und des Staates und die Bildung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung seitens dieser drei Korporationen, ein Ergebnis, das besonders dem Eintreten des Herrn Regierungspräsidenten und des Herrn Oberpräsidenten zu danken sei. Neue Hindernisse hätten dann noch die Siegregulierung und die Einsprüche wegen der Bahnführung bereitet, aber nun seien alle Schwierigkeiten beseitigt und die Bahn gebaut. (…) Herr Landeshauptmann Hammerschmidt weist darauf hin, daß bei allen Kleinbahnen sich dieselben Erscheinungen wiederholten. (…) Das Werk habe erst Hand und Fuß bekommen, nachdem die Eisenbahnbehörde erklärt hatte: wir bauen die Bahn nicht. Da begannen die Kräfte der Selbstverwaltung sich zu regen zu schöner Tat. Er glaube, daß noch ganz andere Taten von ihr zu erwarten seien. Die Zeiten des Verlassens auf die Staatshülfe seien eben vorüber; Selbsthülfe sei heute die Parole. Dem Staat aber müsse man danken, daß er die Kräfte der Selbstverwaltung und Selbsthülfe fördere. Die Selbsthülfe erfordere aber Opfer; solche Opfer habe auch der Kreis und das Amt für die Bahn gebracht. (…) Im Namen des Eisenbahnkomitees sprach Herr Rudolf Irle (Deuz) Kreis, Provinz und Staat seinen Dank aus für die Bewilligung der Gelder zum Bahnbau. Es habe ihm heute einer gesagt, der Bahnbau sei seit Christi Geburt das größte Ereignis (Heiterkeit). Hauptsächlich danke er Herrn Landrat Dr. Bourwieg, der unentwegt dem Ziele zugestrebt habe (…) Herr Regierungsrat Sasse (Arnsberg) begrüßte die Festversammlung im Namen des Herrn Regierungspräsidenten, der bedauere, nicht anwesend sein zu können. Auch er wünsche, daß die Bahn dauernd dem Amte Netphen zum Segen gereichen möge. (…) Herr Regierungsrat Breuer bringt als Vertreter des Herrn Eisenbahndirektionspräsidenten dem jungen Unternehmen seine Wünsche dar. Die Bahn könne stets der Unterstützung der Eisenbahnbehörde, die ja zu einem Drittel an ihr beteiligt sei, sicher sein. Sie habe ein Interesse daran, daß der Bahn alle Erleichterungen zuteil werden, die nur möglich sind. (…) Herr Landtagsabgeordneter Macco hebt dankbar hervor, daß das Siegerland in den letzten Jahren sich der Gunst der Staatsbehörden habe erfreuen dürfen. Das könne aber nicht verhindern, rüstig weiter zu arbeiten, da noch manches zu tun übrig bleibe. So sei es eine erstrebenswerte Aufgabe der Zukunft, die drei Unternehmen der Eisern-Siegener Eisenbahn, der Kreisbahn und der Kleinbahn unter einer Verwaltung zu vereinigen. Er verkenne die hierin liegenden Schwierigkeiten nicht, glaube aber, daß diese Vereinigung in irgend einer Form möglich sei, zum Segen des Siegerlandes. Der Redner bittet, diese Aufgabe nicht aus dem Auge zu lassen (…); die Feier (nahm dann) einen feuchtfröhlichen Fortgang. Herr Postagent Otto gedachte in humorvoller Rede der Vorzüge der Bahnverbindung für die vielen auswärts beschäftigten Arbeiter, hob den patriotischen Sinn der einheimischen Arbeiter rühmend hervor und ließ seine Rede ausklingen in einem Hoch auf das liebe deutsche Vaterland. (…) Leider regnete es den ganzen Tag in Strömen, sodaß das schöne landschaftliche Bild des von der neuen Bahn durchschnittenen Tales nicht zur Geltung kam.“

Ohne jeglichen Festakt erfolgte dagegen genau zehn Jahre später, also vor hundert Jahren, am 1. Dezember 1916, die Inbetriebnahme der Verlängerungsstrecke von Deuz nach Irmgarteichen-Werthenbach für den Personenverkehr. Mitten im ersten Weltkrieg stand den Verantwortlichen in Zeiten von Mangelwirtschaft, fortschreitender Teuerung und kontinuierlich steigenden Gefallenenzahlen nicht mehr der Sinn nach großen Feierlichkeiten. Entsprechend nüchtern liest sich heute der kurze Zeitungsartikel von damals:

„Deuz, 30. Nov. Der durch den Krieg sehr verzögerte Bau der Kleinbahn Deuz-Irmgarteichen ist nun so weit gefördert, daß heute die landespolizeiliche Abnahme durch die Herren Vertreter des Herrn Regierungspräsidenten und der Königlichen Eisenbahndirektion im Beisein des Herrn Landrats und der Ortsbehörden erfolgen konnte. Zur Betriebseröffnung für den Personenverkehr wurde die Genehmigung erteilt; der Güterverkehr soll aufgenommen werden, sobald die Befestigung der Ladestraßen beendigt ist. Mit Rücksicht auf die Zeitverhältnisse soll eine Eröffnungsfeier unterbleiben. Für die Aufschließung des sogenannten Johannlandes ist die Betriebseröffnung von großer Bedeutung.“

Gleichzeitig wurde in einer Zeitungsanzeige von der Kleinbahnabteilung der Westfälischen Provinzialverwaltung der neue Fahrplan für die verlängerte Gesamtstrecke veröffentlicht. Erst nach Fertigstellung der Ladestraßen konnte am 21. Mai 1917 auch der Güterverkehr auf der Neubaustrecke aufgenommen werden. Mit dieser Verlängerungsstrecke von nahezu 5 Kilometern erreichte die Kleinbahn Weidenau-Deuz ihre endgültige Gesamtbetriebslänge von 16,43 Kilometern.

ZUSAMMENGESTELLT VON WILFRIED LERCHSTEIN

Quelle: Siegener Zeitung, 26.11.2016